2 August 2023
Roman Kwiatkowski
Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen
Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages der Sinti und Roma am 2. August 2023
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute begehen wir den Europäischen Holocaust-Gedenktag für Roma und Sinti.
Vor 79 Jahren wurden die letzten männlichen und weiblichen Roma-Häftlinge des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau - 4.300 Menschen - in Gaskammern getrieben. Die verbrecherische Ideologie des Nationalsozialismus wollte damit ein Volk von der Landkarte Europas tilgen, das seit fast 700 Jahren einen Teil seiner Geschichte geprägt hat.
Aber die Sinti und Roma haben diese Vernichtung überlebt, so wie sie jederzeit der Verfolgung und Ausgrenzung getrotzt haben, weshalb wir der Anwesenheit, der immer weniger werdenden Überlebenden - der Zeugen des Holocaust - unter uns so, große Bedeutung beimessen. Sie haben auch deshalb überlebt, um heute Zeugnis über die Jahre der Verachtung und ihre Nachwirkungen abzulegen.
Wir freuen uns, dass jedes Jahr mehr und mehr junge Menschen mit uns an diesem Ort gedenken. Das ist von großer Bedeutung, denn Ihr jungen Menschen seid es, die dafür sorgen, dass die Erinnerung an die ermordete halbe Million Roma und Sinti während des Zweiten Weltkriegs bewahrt bleibt. Deshalb treffen wir uns seit mehr als dreißig Jahren auf Initiative des Verbands der Roma in Polen an diesem Gedenkort. Gemeinsam mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma organisieren wir das Gedenken.
Auch die stetig wachsende Zahl der Gäste ist für uns ein wichtiges Signal dafür, dass die Vernichtung der Sinti und Roma nicht mehr nur als eine wenig bekannte und marginale Episode des Zweiten Weltkriegs behandelt wird, sondern sich fest in die Erinnerung an die tragische Geschichte jener Zeit eingeschrieben hat. Der 2. August ist in den Kalendern vieler Länder für immer als offizieller Gedenktag für unsere ermordeten Brüder und Schwestern verankert.
Zum zweiten Mal, und möge es das letzte Mal sein, treffen wir uns in der Gedenkstätte Birkenau im Schatten eines nicht weit entfernt tobenden Krieges. Die Entschlossenheit der Verteidiger der Ukraine, einschließlich der dortigen Roma, hätte nicht ausgereicht, um der bewaffneten Macht der russischen Invasoren zu widerstehen, wenn es nicht die Solidarität der Völker und Regierungen der freien Welt gegeben hätte. Die gegenwärtige Situation hat mit großer Eindringlichkeit gezeigt, wie groß die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, der Ablehnung nationaler Egoismen und der Aufgabe von Partikularinteressen ist, wenn man verhindern will, dass Europa die tragische Erfahrung von vor 80 Jahren wiederholt.
Aber die Feinde der Freiheit drängen nicht immer aus dem Ausland in unsere Welt. Rassistische und nationalistische Ideologien sind auch im Europa des 21. Jahrhunderts noch lebendig. Für uns Roma und Sinti, die wir so tragische Erfahrungen mit der Geschichte gemacht haben, ist jede Manifestation von Ausgrenzung und Diskriminierung ein Weckruf, der vor einer Wiederholung der tragischen Zeiten von vor 80 Jahren warnt. Die Demokratie und die Freiheit müssen gegen ihre Feinde im Inneren mit der gleichen Entschlossenheit verteidigt werden, mit der wir sie gegen äußere Gewalt verteidigen.
Meine Damen und Herren, das Wesentliche der Roma-Identität sind Erinnerung, Sprache und Kultur. Durch sie bereichern wir die Kultur der Mehrheitsgesellschaften, in denen wir leben. Und wir selbst nehmen auch die Kultur der Welt, um uns herum auf. Es ist kein Widerspruch, Sinti und Roma oder zugleich Bürger eines der Länder zu sein, in denen wir seit Generationen unser Zuhause gefunden haben.
Das Verhältnis der Staaten zu den Roma-Gemeinschaften muss sich jedoch deutlich
verändern.
Alle Förder- und Hilfsprogramme für unsere Minderheit - auch solche, die eine
direkte Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union darstellen - müssen unter Teilhabe
und Mitbestimmung der Roma und Sinti durchgeführt werden und nicht über ihre Köpfe
hinweg.
Wir sind diejenigen, die unsere Probleme und Bedürfnisse am besten kennen, wir sind diejenigen, die aus der Kraft der täglichen Erfahrung heraus den Sinn und die Wirksamkeit dieser Programme beurteilen können. Es gibt zu viele Fälle, in denen öffentliche Gelder in einer Weise verwendet werden, die nichts zur Verbesserung der Lebensumstände unserer Gemeinschaft beiträgt und uns manchmal sogar mit der Mehrheitsgesellschaft in die Nähe eines Konflikts führt. Einige Projekte werden nicht zu Ende geführt, andere überschneiden sich mit der Politik des Staates gegenüber der Gesellschaft insgesamt, wieder andere sind einfach nicht sinnvoll. Sie alle haben eines gemeinsam - die Sinti und Roma werden nicht in ihre Entstehung einbezogen, sie werden nicht nach ihrer Meinung gefragt, sie werden in die Rolle passiver Empfänger von Leistungen gedrängt.
Ich möchte dies mit Nachdruck betonen - nur eine solche Unterstützung für die RomaGemeinschaft wird mit gewünschten Ergebnissen einhergehen, bei denen Roma und Sinti einen entscheidenden Einfluss auf deren Planung und Umsetzung haben werden. Verantwortung und Teilhabe an der Gestaltung unseres Schicksals sind die wichtigsten Faktoren für die staatsbürgerliche und soziale Integration der Roma. Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache, dass unsere Sprache, Kultur und Traditionen als Grundlagen unserer Identität zu betrachten sind, die es in Gesellschaften, die Vielfalt als besonderen Wert anerkennen, zu pflegen und zu schützen gilt.
Wir Roma und Sinti sind froh über unsere eigenständige Identität. Doch damit hören wir nicht auf, Staatsbürger jener Staaten zu sein, die unsere Heimat sind. Wir teilen unsere Rechte und Pflichten mit allen unseren Landsleuten und streben weder Privilegien noch eine besondere Behandlung an, und zwar in keinem Lebensbereich, der nicht mit unseren Traditionen, unserer Kultur und unserer Sprache verbunden wäre. Auch die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik des Staates geht uns genauso an wie die Gesellschaft als Ganzes.
Eine besondere Entwicklung nimmt in diesem Zusammenhang die Einrichtung eines Zentrums für Roma-Kultur und -Geschichte ein. Eine neuartige Einrichtung, an deren Gründung wir maßgeblich beteiligt sind und deren Ziele und Arbeitsweise wir mitbestimmen werden. Sie stellt ein Element echter Unterstützung für die Roma-Gemeinschaft dar. Sie ist ein deutliches Signal, dass die Roma-Kultur keine bunte Folklore sei, sondern Teil der Kultur und Geschichte eines ganzen Volkes. Eine bessere Teilhabe kann man sich kaum vorstellen – die nicht durch Uniformierung der Gesellschaft, sondern durch Nutzung ihres multikulturellen Erbes erreicht wird.
Polen wird damit zu einem einzigartigen Land in unserem Teil Europas. Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für eine Minderheitenpolitik, die sich auf das konzentriert, das für jede ethnische Gruppe am wichtigsten ist: die Bewahrung ihre Identität und sie zu einem unverzichtbaren Teil der nationalen Kultur zu machen. Dafür möchte ich heute all jenen meinen aufrichtigen Dank aussprechen, die zu diesem Werk beigetragen haben, insbesondere dem Vorstand der Wojewodschaft und den Abgeordneten der Regionalversammlung von Kleinpolen. Sie haben bewiesen, dass unser Zusammenleben in dieser Region ein wichtiger Teil der polnischen Identität und der Roma-Kultur ist.
Meine Damen und Herren! in einem Jahr werden wir den 80. Jahrestag der Vernichtung des sog. Zigeunerlagers im deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau begehen. Ich hoffe, dass wir dann frei von vielen Ängsten zusammenkommen, die uns heute begleiten. Dass das Gedenken an den Holocaust in erster Linie eine Lektion in Geschichte und Erinnerung sein wird, und nicht eine Warnung vor neuen Bedrohungen durch Fanatismus und Rassismus. Künftige Generationen sollten niemals das Schicksal ihrer Vorfahren erfahren, dafür sind wir alle ihnen gegenüber verantwortlich.
Stellungnahmen 2023
Georgina Laboda
im Namen der Jugend-Gedenkinitiative Dikh He Na Bister
Romani Rose
Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Roman Kwiatkowski
Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen
Nicola Beer
Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments
Gerda Pohl
Überlebender des Holocaust