2 August 2023
Romani Rose
Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages der Sinti und Roma am 2. August 2023
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Frau Beer,
Sehr geehrter Herr Stellvertretender Senatsmarschall Kaminski,
Ich freue mich ganz besonders, Frau Gerda Pohl zu begrüßen, die heute für die Überlebenden sprechen wird, die ich alle sehr herzlich begrüßen möchte,
Ebenso möchte ich die Delegation der deutschen Bundesregierung begrüßen: Herrn Generalskonsul Mahnicke, den Sonderbeauftragten für Holocaust Erinnerung im Auswärtigen Amt, Herrn Dr. Klinke, den Antiziganismus-Beauftragten der Bundesregierung, Dr. Daimagüler, die Justizministerin aus Thüringen Frau Denstädt, sowie die Mitglieder des Deutschen Bundestages, Frau Polat und Herrn Lindh,
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir erinnern heute an die 4.300 Sinti und Roma, die auf den Tag genau vor 79 Jahren, in Auschwitz in der Nacht vom 2. auf den 3. August ermordet wurden. Es waren die letzten Angehörigen unserer Minderheit in diesem Vernichtungslager, die trotz ihres erbitterten Widerstandes von der SS in die Gaskammern getrieben wurden. In Erinnerung daran hat das Europäische Parlament im April 2015 den 2. August zum Europäischen Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma erklärt.
Wir begrüßen, dass die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Nicola Beer heute bei uns ist und mit uns gemeinsam der 500.000 ermordeten Sinti und Roma im NS-besetzten Europa erinnert und gedenkt.
Orte wie Auschwitz, Majdanek, Sobibor, Treblinka, Jasenovac, Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau sind zu den größten Friedhöfen unserer Minderheit in Europa geworden.
Auschwitz steht als Symbol für ein Menschheitsverbrechen und den Zivilisationsbruch schlechthin, den die Nazis an 500.000 Sinti und Roma und 6 Millionen Juden begangen haben. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich diese spezifische Form des Antiziganismus fort. Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dies mit folgenden Worten im Oktober 2022 zum Ausdruck gebracht: (ich zitiere)
„Behörden, Polizei und Justiz diskriminierten, stigmatisierten oder kriminalisierten Angehörige der Minderheit; in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit wurde der Völkermord an den Sinti und Roma verschwiegen, verleugnet oder verdrängt; Ansprüche auf Entschädigung wurden lange, viel zu lange nicht anerkannt […] Auch für dieses zweite Leid, das den Sinti und Roma in der Nachkriegszeit angetan wurde, will ich heute im Namen unseres Landes um Vergebung bitten.“
Sehr geehrte Damen und Herren, das Gedenken an das Verbrechen des Holocaust an Sinti und Roma bedeutet nicht Schuldübertragung an heutige Generationen, sondern gemeinsame Verantwortung für Demokratie und Rechtsstaat. Denn historisches Erinnern bedeutet immer auch gelebte Verantwortung für die Gegenwart.
Mit großer Sorge beobachten wir in ganz Europa eine demokratiefeindliche Haltung und einen Rechtsextremismus, der sich wieder durch Gewalt gegen Sinti und Roma, gegen Juden und andere Minderheiten zeigt. Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus gehören in vielen Ländern Europas heute wieder zum Alltag. Die Lebenssituation von Sinti und Roma ist in vielen Ländern weiterhin geprägt von einem strukturellen und tief verwurzelten Antiziganismus, der einen großen Teil unserer Minderheit, als Bürger in ihren Heimatländern, in denen sie schon seit 600 Jahren leben, weiter ausgrenzt und ihnen die gleichberechtigte Teilhabe verweigert.
So leben zum Beispiel in Osteuropa ein Großteil der Roma unter Apartheid-ähnlichen Bedingungen und werden in Bereichen der Bildung, Wohnsituation, Arbeit und im Gesundheitswesen ausgegrenzt. Die jüngsten Berichte der EU-Grundrechteagentur von 2022 zeigen deutlich das Ausmaß der antiziganistischen Ausgrenzung: Über 80 % der Roma Minderheit gerade in Mittel- und Osteuropa sind von Armut bedroht und 50 % leiden unter schwerer materieller Not. Die Bildungssegregation hat sich in den letzten Jahren sogar verstärkt. Mehr als 50 % der Kinder und Jugendlichen besuchen segregierte Bildungseinrichtungen, zum Beispiel in Bulgarien und in der Slowakei. In Rumänien haben bis heute 40 % der Haushalte der Minderheit keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Diese menschenverachtenden Zustände haben ihre Ursache im jahrhundertealten Antiziganismus. Dadurch wird den Roma Minderheiten in ihren Heimatländern ihre Menschenwürde genommen. Für die Millionen Angehörigen unserer Minderheit ist es ein Hohn, wenn dann - in Kenntnis der unwürdigen Lebenssituation der größten Minderheit in Europa - in offiziellen Reden von Menschenrechten innerhalb der Europäischen Union gesprochen wird.
Es muss der Anspruch der Europäischen Union und seiner Mitgliedstaaten sein den Antiziganismus genauso zu ächten, wie den Antisemitismus. Wir wissen aus der Geschichte, dass der Antiziganismus die Ursache war für das Leid, für Pogrome und Übergriffe gegenüber unserer Minderheit. Durch die Rassenideologie hat dieser Antiziganismus im NS-Staat zum Holocaust an Sinti und Roma geführt.
Die Europäische Union verweist mit Stolz auf die Charta, in der die Menschenrechte einen hohen Stellenwert besitzen. Gerade deshalb muss es die Pflicht von demokratischen Staaten sein die entwürdigenden und menschenverachtenden Zustände gegenüber unserer Minderheit in ihren Heimatländern nicht weiter zu ignorieren.
So begrüßen wir, dass Deutschland und einige andere Staaten die Antiziganismus Definition der Internationalen Holocaust Erinnerungsallianz IHRA übernommen und auf nationaler Ebene zur Umsetzung anerkannt haben. Die IHRA-Arbeitsdefinition des Antiziganismus ist ein wichtiges Instrument, um Antiziganismus zu ächten und ihm entschieden entgegenzuwirken. Wir fordern die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf diese IHRA-Arbeitsdefinition anzuerkennen und umzusetzen.
Der Zentralrat sieht es als einen positiven Umbruch und als Signal des Rechtsstaats gegenüber den deutschen Sinti und Roma, dass das Bundeskriminalamt durch seinen Präsidenten Holger Münch am 27. Januar in diesem Jahr die Antiziganismus Definition der Internationalen Holocaust Erinnerungsallianz IHRA unterzeichnet hat und damit jeder Form von Antiziganismus in seiner Behörde entgegenwirkt und ächtet.
Ich appelliere heute von Auschwitz an alle Innenminister der deutschen Bundesländer, diesem Schritt zu folgen, die Unrechtsgeschichte der Polizei im NS-Staat und nach 1945 wissenschaftlich aufzuarbeiten und damit die rassistische und antiziganistische Sondererfassung und Kriminalisierung von Sinti und Roma durch die Polizei auf Grundlage der Abstammung endlich zu beenden.
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Beer, sehr geehrte Damen und Herren, ich appelliere von diesem Ort an das Europäische Parlament und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten das Vermächtnis von Auschwitz anzunehmen und anzuerkennen, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe dies in den Demokratien auch durchzusetzen.
Ich danke Ihnen!
Stellungnahmen 2023
Georgina Laboda
im Namen der Jugend-Gedenkinitiative Dikh He Na Bister
Romani Rose
Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Roman Kwiatkowski
Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen
Nicola Beer
Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments
Gerda Pohl
Überlebender des Holocaust