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2 August 2023

Gerda Pohl

Überlebender des Holocaust

Rede anlässlich des Holocaust-Gedenktages der Sinti und Roma am 2. August 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,

es bewegt und berührt mich sehr, dass ich heute – beim Europäischen Holocaust-Gedenktag für die Sinti und Roma – als Vertreterin unserer Überlebenden zu Ihnen sprechen darf.

Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich öffentlich eine Rede halte. Bitte verzeihen Sie mir daher meine Aufregung. Mein verstorbener Mann Horst Pohl hat hier in Auschwitz um sein Leben gekämpft. Daher ist es mir besonders wichtig, gerade an diesem Ort an den Holocaust an uns Sinti und Roma zu erinnern.

Aufgewachsen bin ich mit fünf Geschwistern in Swinemünde in Westpommern. Mein Großvater war stolzer Besitzer einer Wanderbühne. Unsere ganze Familie hat mitgeholfen, das Publikum an vielen Orten mit Theaterstücken zu erfreuen und zu unterhalten. Dann aber kam der Krieg, mein Vater Martin Hoffmann wurde 1940 zur Wehrmacht eingezogen. 1942 wurde er – wie alle Angehörigen der Sinti und Roma – aus „rassischen Gründen“ aus der Wehrmacht ausgeschlossen.

Unterdessen durften wir Sinti Swinemünde nicht mehr verlassen. Die Nazis nannten das „Festsetzung“. Gleichzeitig wurden die Repressalien immer schlimmer – meine älteren Geschwister durften nicht mehr zur Schule gehen. Für meine Mutter war es zunehmend schwer, an Lebensmittel zu gelangen. Wir lebten vier Jahre lang in ständiger Angst vor der Deportation. Nachts schliefen wir angezogen, legten Decken und das Notwendigste griffbereit, damit wir fliehen konnten, wenn es eine Razzia gab.

In dieser so schwierigen Zeit erhielten wir Unterstützung von unseren Nachbarn – der deutschen Familie Anasbach. Bei ihr konnten wir uns immer wieder vor der Gestapo verstecken. Viele unserer Verwandten waren schon im KZ und uns drohte jede Minute das gleiche Schicksal.

Das aber blieb uns dank Herrn Hilke erspart, der mit meinem Großvater befreundet war. Er hat auf einer Behörde gearbeitet. Dadurch hat er von der geplanten Deportation der Sinti und Roma in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erfahren. Er hat die Unterlagen zu unserer Familie zurückgehalten. Ohne ihn würde ich ganz sicher nicht vor Ihnen stehen.

Eines Tages hat Herr Hilke uns gewarnt, dass wir uns verstecken müssten. Er könne nichts mehr für uns tun. Wir haben also schnell ein paar Sachen zusammengepackt und sind in die Wälder geflüchtet.

Wir haben uns schrecklich gefürchtet und hatten großen Hunger. Im Herbst 1944 sind wir dann Richtung Westen geflohen, sechs Monate lang waren wir unterwegs – immer von der Angst begleitet, entdeckt und doch noch im Konzentrationslager ermordet zu werden.

Ich möchte auch an das Schicksal meines Mannes Horst Pohl erinnern. Seine Familie hat niemand gewarnt oder unterstützt. Er wurde 1934 in den Masuren geboren. Im Januar 1942 wurde er mit Eltern und Geschwistern aus „rassischen Gründen“ verhaftet, zunächst im Gefängnis inhaftiert und dann in ein Arbeitslager deportiert. Von dort kam er im April 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau – im Alter von zehn Jahren. An dem Ort, an dem wir heute stehen, wurden sein Vater und sein jüngster Bruder ermordet. Und er selbst wurde für pseudomedizinische Versuche misshandelt. Er konnte den Gaskammern entkommen und wurde nach Sachsenhausen, Mauthausen und Bergen-Belsen weitertransportiert.

Nach der Befreiung hatte seine Mutter Angst, ihren halbverhungerten Sohn zum Arzt zu bringen, weil sie keinem Mediziner mehr trauen konnte. Und er selbst hatte geradezu panische Furcht vor Krankenhäusern. Womöglich hätte seine schwere Erkrankung, an der er 1988 im Alter von nur 54 Jahren verstarb, geheilt werden können. Gutachter haben später abgestritten, dass es einen Zusammenhang geben könnte mit den Misshandlungen durch die SS in den KZ.

Auch nach dem Krieg mussten wir in Deutschland als Sinti viele Demütigungen erleiden. Schon gleich nach Ende des Krieges wollte uns meine Mutter Marie Hoffmann in der Schule in Bremerhaven anmelden. Doch die Eltern der anderen Kinder lehnten das ab und erst nach langen Diskussionen wurden wir – zunächst nur zur Probe – aufgenommen. Wir waren fleißig, aber wurden von Mitschülern und Lehrern drangsaliert. Auch diese Erfahrungen haben – wie die NS-Zeit – mein späteres Leben dauerhaft geprägt. 

In den letzten Jahren ist es vielleicht etwas besser geworden. Es gib ein bisschen weniger Diskriminierung und Ausgrenzung – auch weil Einrichtungen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma unermüdlich dagegen ankämpfen. Aber wir müssen vorsichtig sein, dass es nicht wieder losgeht. Die Wahlerfolge der rechten Parteien in vielen Ländern Europas und das massive Auftreten von gewalttätigen Rechtsradikalen machen mir Angst.

Deshalb bitte ich Sie von ganzem Herzen, bekämpfen Sie den Rassismus, wo immer er Ihnen begegnet. Vor allem den jungen Menschen möchte ich zurufen: Ihr habt es in der Hand, wie die Zukunft von Deutschland, Europa und der ganzen Welt aussehen wird.

Vielen Dank.

Testimonies of Holocaust Survivors

Stellungnahmen 2023

Romani Rose

Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

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