Foto: Jaroslaw Praszkiewicz

Das Leben der Häftlinge

Auszug aus "Die Vernichtung der europäischen Roma im KL Auschwitz"

Das Zigeunerlager war ein eigenartiger Ort. Die Familien wurden dort nicht getrennt, sie durften auch ihre Kleidung, ihr Geld und ihr Gepäck behalten. Diejenigen, die es sich leisten konnten, hatten die Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen. Die Häftlinge hatten keinen festen Arbeitsplatz in den Arbeitskommandos des Lagers, wurden jedoch gelegentlich bei diversen Ordnungs- oder Bauarbeiten eingesetzt.

Aus der Sicht der Häftlinge stellte jedoch gerade der familiäre Charakter des Lagers eine Entwürdigung dar – durch das Zusammenpferchen der Menschen auf einer sehr kleinen Fläche wurden sämtliche kulturellen Prinzipien verletzt, die das Zusammenleben von Roma unterschiedlichen Geschlechts und Alters sowie den Umgang der verschiedenen Gruppen miteinander regelten. Die Tatsache, dass kulturelle Tabus unter diesen Umständen nicht eingehalten werden konnten, löste bei vielen tiefe Erschütterung aus. Hinzu kamen noch die Traumata der im Lager zwangssterilisierten Häftlinge und der sexuell missbrauchten Frauen. In den traditionellen Kulturen der Roma herrschten besonders strenge Normen in Bezug auf die Sexualität, daher hinterließen solche Erfahrungen häufig unheilbare Wunden in der Psyche der Betroffenen und ihrer Familien.

Kleidung und Kennzeichnung

In den Anfängen des Zigeunerlagers trugen die Häftlinge noch ihre eigene Kleidung. Auch die Haare wurden ihnen nicht geschoren.

Die Zigeuner, die Anfang 1943 hierhergebracht und im Abschnitt BIIe in Birkenau angesiedelt wurden, behielten ihre Zivilkleidung. An den Oberteilen trugen sie vorne links einen Flicken mit einem schwarzen Dreieck, dessen Grundseite nach unten zeigte. Auf der rechten Seite des Dreiecks, leicht nach unten versetzt, befand sich der Buchstabe Z (die Abkürzung für Zigeuner) und daneben die jeweilige Häftlingsnummer (...). Was die Zigeuner vom Abschnitt BIIe angeht, wurden wir vor ihrer Ankunft angewiesen, in der Bekleidungskammer 30 000 Flicken mit dieser Kennung anzufertigen, die sie später trugen und die ich obenstehend beschrieben habe.

Arbeit

Im Zigeunerlager gab es keinen Arbeitszwang. Die Zigeuner arbeiteten im Lager beim Bau der Lagerstraßen und verrichteten unterschiedliche Einrichtungsarbeiten. Die Arbeitsfähigen fuhren mit Wagen aus dem Lager raus, um Sand, Steine und Grasnarben zu holen, die für den Bau der Lagerstraße in ihrem Abschnitt notwendig waren. Die Zigeunerinnen gingen jeden Tag raus, um Kräuter für die Lagersuppe zu sammeln. Sie sammelten sie an der Weichsel und auf dem Gelände des späteren „Mexiko“.

Manche Roma-Häftlinge wurden zur Schwerstarbeit beim Vertiefen der Abwassergräben im Zigeunerlager gezwungen, wie der folgende Bericht belegt:

Schon in aller Frühe mussten wir aufstehen, dann bekamen wir als Frühstück eine Brühe – Kaffee konnte man dazu nicht sagen. Wenn man noch ein wenig Brot hatte vom Vorabend, war es gut, denn sonst gab es nichts. Dann wurde abgezählt, alle mussten sich dazu vor die Buchsen stellen. Diejenigen, die zum Arbeitskommando eingeteilt waren, mussten heraustreten. Draußen auf der Lagerstraße wurde nochmals gezählt. Wehe, es fehlte einer, dann mussten wir alle stehen bleiben. Immer wieder gab es Kranke, die sich verkrochen hatten, die so entkräftet waren, dass sie einfach nicht mehr konnten, und die wurden beim Zählen vermisst. Ich wurde zum Kommando Kanalbau in Birkenau eingeteilt (...) als Sechzehnjähriger (...). Es gab keine Schuhe, keine Strümpfe, und es hat gestürmt und geregnet. Alles war nass, und wir mussten ununterbrochen Lehm schaufeln. Der Kanal war etwa zweieinhalb Meter tief und über uns stand ein Kapo mit einem großen Stock, der uns antrieb (...). Um zwölf Uhr war Pause, man hatte einen Blechnapf bei sich, und wer sich bei der Essenausgabe nicht gerade hinstellte, bekam sofort die Kelle auf den Kopf. Nach einer halben Stunde Pause mussten wir wieder arbeiten, bis vier oder fünf Uhr, je nach Jahreszeit. Dann wurden wir abgezählt und gingen in die Blocks zurück. An jedem Abend wurden die Namen der Toten bekannt gegeben. (...) Auf der Lagerstraße von Birkenau lagen unzählige Tote, bergeweise lagen sie da (...). Nachts, wenn alles gefroren war, wurden die steif gefrorenen Leichen auf Lastwagen geworfen und weggefahren.

Die Kantine

Auf dem Gelände des Zigeunerlagers befand sich eine Kantine, in der Häftlinge, die Geld besaßen, Lebensmittel, Mineralwasser, Zigaretten usw. kaufen konnten.

In der Kantine durften nur die Zigeuner und der Sanitärdienst einkaufen. In einem 300-Liter-Kessel, der in der Kantinenbaracke stand, kochten wir jeden Tag Suppen, die die Häftlinge als „Kantinsuppe“ bezeichneten: Milchsuppe, Gemüsesuppe, Rote Bete. (...) Wir kochten die Suppen aus Fertigpräparaten, die in Paketen kamen, sogar die Bete wurde in Dosen geliefert. Jeden Tag kochten wir einen ganzen Kessel voll und verkauften alles. Anfangs bezahlten die Zigeuner bar, später wurden Prämienscheine eingeführt. Der Tagesumsatz war hoch, zwischen 16 000 – 17 000 Mark. Als die Prämienscheine eingeführt wurden, sank der Umsatz.

Beziehungen zwischen den Häftlingen

Im Hinblick auf die die Beziehungen zwischen den verschiedenen Häftlingsgruppen im Zigeunerfamilienlager gehen die Berichte stark auseinander. Manche betonen die enorme Solidarität und gegenseitige Hilfe unter den Häftlingen. In Anlehnung an solche Berichte schreibt ein Historiker des KL Auschwitz:

Obwohl die Zigeuner aus verschiedenen Ländern stammten, waren keine Antagonismen zwischen ihnen erkennbar. Es herrschte eine erstaunliche Solidarität und alle unterstützten sich gegenseitig. Es gab unter ihnen keine Schlägereien, keine Streitigkeiten und die Familien achteten sehr auf die Disziplin ihrer kleinen Kinder. Die familiäre Bindung war unglaublich stark. Sie versuchten, trotz der unmenschlichen hygienischen Bedingungen Ordnung und Sauberkeit in den Baracken zu halten.

Doch die unmenschlichen Bedingungen im Lager, die allgegenwärtige Gewalt, die Dehumanisierung und der Überlebenskampf führten auch zu Konflikten zwischen Häftlingen aus unterschiedlichen Ländern und zum Machtmissbrauch seitens der Funktionshäftlinge, was ebenfalls durch zahlreiche Berichte belegt wird.

Häftlingskategorien

Im Zigeunerlager waren unterschiedliche Gruppen von Sinti und Roma inhaftiert, die sich oftmals stark voneinander unterschieden. Dazu gehörten Menschen, die dem traditionellen Wertesystem und seinen Ritualen treu geblieben waren, aber auch solche, die nicht nach diesem System lebten. Reiche Häftlinge, die sich dank ihrem Geld eine bessere Verpflegung leisten und somit höhere Überlebenschancen sichern konnten; ehemalige Wehrmachtssoldaten, die nicht verstehen konnten, wieso sie im KL Auschwitz eingesperrt worden waren; gebildete Menschen und erfahrene Fachkräfte; aber auch arme Menschen, die mit keinerlei Hilfe rechnen konnten.

Ungefähr im vierten Block von der Küche aus gesehen wohnten die reichen Zigeuner (...); dort gab es immer reichlich zu rauchen, zu essen und zu trinken. Die tschechischen Zigeuner (...) hatten anfangs ihren eigenen Block, doch später wurden sie getrennt. Sie kamen aus Mähren und die Kesselschmiede waren die reichsten unter ihnen. Sie bildeten die Elite des Lagers. (...) Manche von ihnen (...) arbeiteten in der Lagerverwaltung. Viele Mädchen hatten Abitur an der Handelsakademie gemacht, sprachen Deutsch und konnten Maschinenschreiben.

Deutsche Sinti – Wehrmachtssoldaten im Zigeunerlager

Ins Zigeunerlager werden wieder Zigeuner aus ganz Europa herbeigebracht. Sie kommen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, aus Deutschland. Es gibt hier bereits mehr als 12 000 von ihnen, sie haben ein separates Lager. Es werden ganze Familien herbeigebracht – Greise, Frauen, Kinder, Babys und Schwangere. (…) Nicht nur Wanderzigeuner werden hergebracht, sondern auch assimilierte, sesshafte Zigeuner, deutsche Intellektuelle, Künstler und Soldaten. Erst kürzlich nach der Ankunft eines Zigeunertransports aus Deutschland, als einer der SS-Männer einen der Zigeuner zu grob behandelte, bäumte sich dieser auf und beschimpfte ihn: „Du Feigling, du kämpfst hier gegen Frauen und Kinder statt an der Front, ich wurde bei Stalingrad verwundet, ich wurde vielfach ausgezeichnet, ich habe einen höheren Rang als du und du wagst es, mich zu beleidigen!“ Der SS-Mann zog ab wie ein begossener Pudel. Dieser eingedeutschte Zigeuner war, wie viele andere Zigeuner auch, zu Anfang des Krieges in die deutsche Armee eingezogen worden, er war einfach nur im Urlaub bei seinen Verwandten und wurde ungeachtet seiner Uniform und seines Militärdienstes mit der ganzen Familie in das Zigeunerlager verschleppt. Es gibt hier mehrere Dutzend deutsche Soldaten. Die meisten tragen deutsche Auszeichnungen aus diesem Krieg.

Wir fanden heraus, dass sich unter den Zigeunern auch Wehrmachtssoldaten befanden, die gezielt in den Urlaub geschickt worden waren, auch von der vordersten Front, damit sie nach der Ankunft in der Heimat sofort festgenommen und im Lager inhaftiert werden konnten, wo sie ihren Verwandten begegneten, die zuvor bereits verschleppt worden waren. Viele von ihnen waren für Mut und Tapferkeit im Ersten und im Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet worden (…). Sie prahlten mit diesen Auszeichnungen, in dem Glauben, dadurch besser behandelt zu werden. Ihren Aussagen war zu entnehmen, dass sie irrtümlicherweise verhaftet worden waren und innerhalb der nächsten Tage entlassen werden sollten. Entsprechend verhielten sie sich auch den anderen Zigeunern gegenüber, insbesondere denen anderer Nationalitäten, die im Lager die meisten Funktionen innehatten. Sie weigerten sich, jegliche Arbeiten auszuführen, mit denen die Funktionshäftlinge sie beauftragten. Erst nach einiger Zeit begannen sie, ihre hoffnungslose Lage zu verstehen und ihre Einstellung zu ändern (…).

Gebildete deutsche Sinti mit doppelter Identität

In der Schreibstube arbeitete unter anderem auch (…) die zwanzigjährige Zigeunerin Hilli Weiß, die sehr scharfsinnig und intelligent war. Ich wollte wissen, welche Schlüsse Hilli aus ihrem fast zweimonatigen Aufenthalt im Lager gezogen hatte. (...) Sie war noch sehr optimistisch und blickte der Zukunft hoffnungsvoll entgegen. Sie erzählte mir, dass sie aus Berlin kam, dort geboren und zur Schule gegangen war und bis zu ihrer Verhaftung gearbeitet hatte. Sie fühlte sich als Deutsche und war überzeugt, dass sie irrtümlich verhaftet worden waren – auch ihre Eltern und ihre Schwester wurden in das Lager verschleppt. Vor der Verhaftung hatten sie alle in einem Rüstungsbetrieb gearbeitet. Ihr Vater war sogar ein geschätzter Schlosserfachmann und demnach sehr wichtig für die Kriegswirtschaft.

Mein Vater konnte das alles überhaupt nicht verstehen. Er war ja mit im Ersten Weltkrieg gewesen und stolz, dass er deutscher Soldat war. Das war doch auch sein Vaterland, für das er geblutet hat. Mein ältester Bruder, der Anton, der ebenfalls Soldat war, ist schon (…) 1943 nach Auschwitz weggebracht worden. Vorher hatte er noch den Krieg mitgemacht. In Polen und Frankreich hat er gekämpft und wurde sogar verwundet. (…) 1943 kamen er, seine drei Kinder und seine hochschwangere Frau [auf] den Transport nach Auschwitz und sind dort an den Misshandlungen „gestorben“.

Sinti und Roma in Auschwitz

Sign of Block 11; photo taken by Jaroslaw Praszkiewicz.

Block 11

Auszug aus "Die Vernichtung der europäischen Roma im KL Auschwitz"

Photo of flower in front of barbed wire fence taken in Auschwitz-Birkenau by Jaroslaw Praszkiewicz.

Fluchten

Auszug aus "Die Vernichtung der europäischen Roma im KL Auschwitz"

Photo of KL Auschwitz II-Birkenau taken by Jaroslaw Praszkiewicz.

Kinder

Auszug aus "Die Vernichtung der europäischen Roma im KL Auschwitz"

Website erstellt von

Website unterstützt von

Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments

Kofinanziert von der Europäischen Union und kofinanziert und durchgeführt vom Europarat

In Zusammenarbeit mit