Éva Fahidi-Pusztai; Foto: Jarek Praszkiewicz.

2. August 2019

Éva Fahidi-Pusztai

Überlebender des Holocaust

Gedenkrede an der Gedenkstätte für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau zum 75. Jahrestag des 2. August 1944 - den Europäischen Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma 2019

Vor genau 75 Jahren am Nachmittag des 2. August 1944 waren wir in Birkenau, wie üblich, mit nichts beschäftigt: Wir durften nichts tun, in die Baracke durften wir nicht hineingehen, wir mussten in der Sonne sitzen, die so brannte, dass wir Brandflecken bekamen auf der Haut. Dass wir regungslos ausharren mussten, war Teil der Strafe. Wir sollten uns vollkommen überflüssig und dumm fühlen. Wir saßen unter der glühenden der Sonne und konnten unsere Augen nicht von der Stelle nehmen, wohin Tag und Nacht ununterbrochen LKWs tonnenweise die Asche aus den Krematorien in den Sumpf schütteten. Zu dieser Zeit waren vier Krematorien Tag und Nacht in Betrieb. Zu jedem Krematorium gehörte eine Gaskammer. Die vier Gaskammern hatten noch die Kapazität, die Unmenge von Menschen zu ersticken. Die Krematorien jedoch hatten nicht genügend Kapazität, die vielen Leichen zu verbrennen. Die Leichen, die in die Krematorien nicht hinein gebracht werden konnten, wurden bei offenem Feuer verbrannt. Es stank unerträglich, das brennende Menschenfleisch stinkt so schrecklich. An all das hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Ich "lebte" schon seit dem 1. Juli 1944 in Auschwitz-Birkenau im Lagerabschnitt B II.

Obgleich zwischen der Horthy Regierung und der Lagerleitung in Birkenau eine Vereinbarung über die tägliche Anzahl von Menschen, die aus Ungarn geschickt werden durfte, in Kraft war, wurden diese Zahlen von der ungarischen Seite immer überschritten. Von drei Ankommenden wurden zwei Personen umgehend in das Gas geschickt, und über die Ermordeten wurden keine Aufzeichnungen geführt, so weiß man auch nicht, wie viele Menschen ermordet wurden. Nur die Listen, die die Deportation der Menschen aus Ungarn bezeugen, sind uns geblieben.

Am Nachmittag des 2. August ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Unser Mittagessen wurde aus dem Nachbarlager gebracht. Vier Personen trugen den Kessel, je zwei an beiden Seiten, und brachten ihn zu unseren Lagerabschnitt. Eine der Kesselträgerinnen war ein junges Mädchen, das entdeckte, dass sich ihre Mutter in unserem Lager befand. Nachdem sie den Kessel gebracht hatte, wollte Sie daraufhin nicht wieder zurück, sondern bei ihrer Mutter bleiben. In beiden Lagern stimmte daraufhin der Appell nicht. Man hat Mutter und Tochter entdeckt und beide so lange gepeitscht, bis sie sich nicht mehr geregt haben. Und wir, die zuschauen mussten, mussten auf den spitzen Steinen vom Appellplatz mit hochgestreckten Armen knien. Der Abendappell ist dann ohne weiteren Skandal verlaufen. Wir haben uns zum Schlafen vorbereitet. Auf Grund der Eile, mit der die ungarischen Behörden uns ungarische Juden loswerden wollten, ist alles sehr schnell gegangen. Unsere Baracken waren nicht fertig, als wir in Auschwitz ankamen. In den Baracken gab es überhaupt keine Einrichtung. Wir schliefen in Reihen auf dem kahlen Boden ohne Bettzeug. Wollte sich jemand umdrehen, dann musste sich die ganze Reihe drehen. Ein Mädchen aus Kaposvár namens Erzsi Brodt fand in dieser Nacht keinen Platz mehr zum Schlafen. Das, was Erszi in dieser Nacht beobachtete, war kaum zu ertragen. Wir, die wir auf dem Boden lagen, konnten nichts sehen, wir konnten nur hören, was draußen geschah.

Es war schon fast dunkler Abend. Auf einmal wurde es hell wie am Tag und gleichzeitig ertönte ein schrecklicher Lärm. SS-Männer sind gekommen und haben die Menschen mit Flammenwerfern aus den Baracken im Lager B.II.e getrieben. Es waren sehr viele Kinder dabei gewesen. Das kleinste Geschöpf Gottes weiß, wenn es um sein Leben geht. Die Menschen wussten, dass sie in das Gas getrieben werden. Sie widerstanden mit Steinen, mit Stöcken, mit Gegenständen, die ihnen in die Hände fielen, wobei sie schrien, fluchten, brüllten oder beteten. Die SS hetzte die laut bellenden Hunde auf die Menschen, sie griffen die Menschen an, die Verzweiflung war groß, der Lärm war schrecklich, die Kinder weinten nach den Müttern, die Mütter versuchten die Kinder zu beruhigen. In Birkenau wusste jeder, auch noch so jung, was der Tod bedeutet und das kleinste Kind wusste, was es bedeutet, wenn man mit Flammwerfern in das Gas getrieben wird. Es gab keine Kinder im Zigeunerlager. Dort waren sie schon mit 5 Jahren Erwachsene, die wussten, dass sie dem Tod nicht entkommen können: So oder so werden sie ermordet. 

Wir im Lager waren erstarrt vor Angst. Auch bleibt man nicht gleichgültig, wenn 4300 Menschen im Nachbarlager mit so drastischen Methoden, mit offenem Feuer aus Flammenwerfern in den Tod getrieben werden. So unerwartet, wie diese Aktion begonnen hatte, so unerwartet ist auf einmal Ruhe eingekehrt. Und das konnte man auch kaum aushalten. Man hörte von mehreren Zehntausenden von Menschen in den verschiedenen Lagern in Auschwitz-Birkenau laut das Herz klopfen. Und so oft ich mich an diese entsetzliche Nacht erinnere, weil ich es für meine Pflicht halte, darüber zu sprechen, damit es nicht in Vergessenheit gerät, wünsche ich denjenigen, die in dieser Nacht gemordet haben, dass so lange sie leben und sogar noch darüber hinaus, sie nichts im Leben hören sollen als die schrecklichen Töne dieser Nacht. Und die Angst, die die Ermordeten spürten, sollen sie Tag und Nacht spüren. Sie sollen keine Ruhe mehr haben. Shakespeare wusste: Der schlimmste Fluch ist: Seid verzweifelt! Die ewige Verzweiflung soll sie nie verlassen!

Biografie

Éva Fahidi kam am 22. Oktober 1925 in Debrecen, Ungarn, als Tochter von Dezső und Irma Fahidi in einer großen, wohlhabenden Familie zur Welt. Nach der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im Frühling 1944 wurde die Familie zusammen mit allen jüdischen Einwohnern gezwungen in einem Ghetto im Westteil der Stadt zu leben. Am 27. Juni 1944 waren sie Teil des letzten großen Transports aus Debrecen nach Auschwitz-Birkenau. Während die SS ihre Mutter und ihre Schwester in den Gaskammern ermordete, wurde Éva Fahidi Mitte August zusammen mit anderen ungarischen jüdischen Frauen zur Zwangsarbeit in das KZ-Außenlager Münchmühle im hessischen Allendorf verschleppt. Nach ihrer Befreiung kehrte sie in ihre Heimat zurück, wo sie sich in den ersten Jahren nicht mehr zurechtfinden konnte. Zur Zeit der kommunistischen Schauprozesse erklärte man sie zum „deklassierten Element“ und ließ sie als Hilfsarbeiterin beim Aufbau der Stadt Sztálinváros (heute Dunaújváros) schuften. Nach der Revolution 1956 arbeitete sie im staatlichen Außenhandel, nach der Wende 1989 gründete sie eine eigene Außenhandelsfirma. Éva Fahidi lebt heute in Budapest.

Schon bei ihrer Ankunft in Auschwitz-Birke- nau am 1. Juli 1944 wurde Éva Fahidi mit den menschenunwürdigen Bedingungen konfron- tiert unter denen die Sinti und Roma in der Sektion BIIe lebten. Ihre Schilderungen sind ein wichtiges Zeugnis über die Ermordung der verbliebenen 4.200-4.300 Sinti und Roma in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944.

“Wer die Verzweiflungslaute, das Wehge­schrei, Beten, Fluchen, Flehen, Weinen, Schluchzen, Klagen und Jammern gehört hat, wird es nie vergessen können. Ich habe keine Sprache, um diese Laute der Todesfurcht, des Entsetzens und des Schmerzes wiederzugeben, keine Worte, sie zu beschreiben.“

Statements anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktages für Sinti und Roma

Romani Rose

Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

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Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments

Kofinanziert von der Europäischen Union und kofinanziert und durchgeführt vom Europarat

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