Nadir Dedic; Foto: Jarek Praszkiewicz.

2. August 2019

Nadir Dedic

Holocaustüberlebender und Partisane

Gedenkrede an der Gedenkstätte für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau zum 75. Jahrestag des 2. August 1944 - den Europäischen Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma 2019

Sehr geehrte Überlebende, liebe Freunde,
sehr geehrte Vertreter von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen,

ich freue mich, vor so zahlreichen Menschen an diesem Tag und an diesem historischen Ort sprechen zu können. Gerade weil wir in einer Zeit leben, in der der Rassismus gegenüber unserer Minderheit wieder größer wird, ist es wichtig, an die Ermordung unserer Menschen zu erinnern. Mein Name ist Nadir Dedic und ich wurde am 7. Mai 1930 als Sohn muslimischer Roma in Bozana Gradiska im heutigen Norden von Bosnien und Herzegowina geboren. 

Im Alter von 11 Jahren wurde ich in das Konzentrationslager in Jasenovac gebracht. Ich war damals einer von rund 40.000 Roma, die zwischen 1941 und 1945 dorthin verschleppt wurden. Die meisten unserer Menschen wurden dort auf brutale Weise ermordet. Insgesamt sind in Jasenovac hunderttausende Menschen umgebracht worden. In meiner fünfeinhalb monatigen Gefangenschaft musste ich in dem Todeslager schwere Zwangsarbeit leisten. Auch meine spätere Frau musste die unmenschlichen Torturen von Jasenovac über sich ergehen lassen. Dass wir beide überlebt haben, ist ein Wunder. 

Die Überlebenden waren die Ausnahme. In meiner Familie wurden 81 Männer, Frauen und Kinder von den faschistischen Ustascha-Angehörigen ermordet. Alleine 34 davon im Todeslager Jasenovac. Darunter befanden sich meine Schwester mit ihren Kindern und Nichten und Neffen. Und Jasenovac war nur einer der Orte, an denen Roma ermordet worden sind. Bis heute sind viele der Massenerschießungsorte im ehemaligen Jugoslawien vergessen, genauso vergessen wie ihre Opfer. 

Mir persönlich gelang die Entlassung aus dem Lager nur, weil ein Kroate Jose Kovacevic, ein muslimischer Freund meiner Familie, mich als seinen Sohn ausgab und bei sich aufnahm. Bei ihm blieb ich und arbeitete als Hirte, bis die Ustascha wiederkamen und unser Haus konfiszierten. Als Muslime waren wir im damaligen Kroatien stets zum Opfer von Verfolgungen. Ich wollte dies nicht mehr länger wehr- und tatenlos hinnehmen und entschied mich zum Widerstand. Schließlich schloss ich mich im Alter von 13 Jahren den Partisanen an, um für die Unabhängigkeit Jugoslawiens und gegen den Faschismus zu kämpfen.

Es quält mich sehr, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkrieg nicht auch die Diskriminierung und die Ausgrenzung unserer Minderheit ein Ende nahmen. Ganz im Gegenteil: Nach dem Krieg wurden die Gräueltaten an unser Minderheit öffentlich geleugnet. Dieses Schweigen und Verdrängen konnte ich nicht ertragen. Daher engagiere ich mich seit den 1970er Jahren dafür, dass der Holocaust an unserer Minderheit in der Öffentlichkeit stärker bewusstgemacht und wahrgenommen wird. 1970 initiierte ich eines der ersten Denkmäler für den Holocaust an den jugoslawischen Roma. Es steht in Žeravica, im heutigen Bosnien und Herzegowina. Seit 1986 engagiere ich mich an der Gedenkstätte Jasenovac, unter anderem als aktives Mitglieder des Runden Tisches.

Das Leben und die Lebensperspektiven, die ich mir mühevoll geschaffen hatte, wurden durch die Jugoslawienkriege zerstört. Ich wurde obdachlos und musste lernen, unter sehr traurigen Bedingungen zu leben. Meine Frau starb an den Folgen unserer menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Und heute warte ich seit nunmehr 9 Jahren auf die Zuteilung einer Wohnung. Mit diesem Schicksal bin ich leider nicht alleine: Auch Holocaustüberlebende aus wie zum Beispiel der Ukraine oder Weißrussland leben heute in großer Armut.

Es ist sicherlich kein einfaches Leben, auf das ich zurückschaue. Doch vor allem der Blick in die Gegenwart und die Zukunft bereitet mir Angst und Sorgen. Wenn ich faschistische Organisationen, ihre Reden und ihre Handlungen sehe, dann empfinde ich das als Angriff auf mich und auf das, was ich erleben musste.

Umso wichtiger ist es, heute hier zu stehen. Verehrte Gäste und insbesondere die vielen Jugendlichen, die ich hier sehe: Ob Jasenovac oder Auschwitz, wir alle dürfen niemals vergessen, was geschehen ist! Ich bitte Sie und appelliere: Lassen Sie keinen Rassismus gegen uns Roma mehr zu! Treten Sie gemeinsam ein für ein Miteinanderleben, das auf gegenseitigem Respekt basiert und nicht auf Hass, Verachtung und Ausgrenzung. Das ist die Botschaft, die uns dieser Ort, auf dem wir heute stehen, vor Augen hält.

Vielen Dank.

Biografie

Nadir Dedic wurde 1930 in der Gemeinde Bosanska Gradiska im Norden des heutigen Bosniens und Herzegowinas geboren. Nachdem ihn deutscher Soldaten gefangen hatten, übergab man ihn den faschistischen Ustascha, welche ihn in das Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien verschleppten. Von 1942 bis 1945 fanden dort Massenermordungen von Roma statt. Ein Großteil seiner Verwandten, so auch sein Vater Alija und seine Mutter Kada, starben in Konzentrationslagern (namentlich 34 Personen mit dem Namen Dedič). Nach eigenen Angaben waren insgesamt 81 Familienmitglieder davon betroffen. Enver Hatić, ein muslimischer Freund der Familie und Ustascha, befreite ihn aus dem KZ und nahm ihn als eigenes Kind auf. Bei ihm blieb Nadir Dedic und arbeitete als Hirte, bis er sich 1943 den Partisanen anschloss und am Volksbefreiungskrieg beteiligte. In den 1970ern engagierte er sich dafür, das Bewusstsein der Öffentlichkeit bezüglich des Holocausts an den Roma in zu vergrößern. Er war aktives Mitglied des Runden Tisches zu Jasenovac im Jahr 1986. Außerdem initiierte er die Errichtung eines Mahnmals in Gedenken an die Opfer des faschistischen Terrors in Žeravica, Bosnien und Herzegowina. Seine Ehefrau Fata Dedic (1926/1930-2018) war ebenfalls im KZ Jasenovac inhaftiert und auch ein Großteil ihrer Familie und Verwandten kam in Konzentrationslagern ums Leben.

Statements anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktages für Sinti und Roma

Romani Rose

Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

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Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments

Kofinanziert von der Europäischen Union und kofinanziert und durchgeführt vom Europarat

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