Else Baker; Foto: Jarek Praszkiewicz
2. August 2019
Else Baker
Überlebender des Holocaust
Gedenkrede an der Gedenkstätte für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau zum 75. Jahrestag des 2. August 1944 - den Europäischen Holocaust Gedenktag für Sinti und Roma 2019
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,
ich bin dankbar und sehr bewegt, dass heute so viele Menschen gekommen sind. Ich möchte auch an die anderen Überlebenden erinnern, die leider nicht mehr bei uns sind, wie Ricky Adler, Hugo Höllenreiner und Walter Winter, die ich persönlich kannte.
Wir alle wären sehr bewegt und freudig berührt, dass heute so viele Leute hier sind, um die Erinnerung an das Verbrechen, welches hier vor 75 Jahren geschah, wach zu halten.
Ich wurde im Dezember 1935 in Hamburg geboren, wo ich in einer Pflegefamilie aufwuchs. Für mich waren meine Pflegeeltern, Auguste und Emil Matulat, einfach meine Mutter und mein Vater. Wir wussten nicht, dass meine leibliche Mutter eine Sintiza war. Für die Nazis aber war ich damit eine sogenannte „Zigeunerin“.
Meine Pflegeeltern waren geschockt, als im März 1943 zwei Polizisten vor unserer Tür standen. Sie wollten mich – ein sieben Jahre altes Mädchen – verhaften. Die Polizisten brachten mich zu einem Lagerhaus am Hamburger Hafen. Von hier wurden Sinti und Roma genau wie Juden in die Konzentrationslager deportiert. Zusammen mit über 300 Sinti und Roma sollte ich nach Auschwitz verschleppt werden.
Zu meinem großen Glück gelang es meinem Vater, meine Freilassung zu erreichen, bevor sich der Deportationszug in Bewegung setzte. Ich habe damals gar nicht richtig verstanden, was geschehen war. Am nächsten Tag bin ich einfach wieder in die Schule gegangen.
Nur ein Jahr später wiederholte sich alles noch einmal. Erneut standen Polizisten vor unserer Tür. Erneut wurde ich verhaftet. Erneut versuchte mein Vater, meine Freilassung zu erreichen. Dieses Mal war es vergeblich. Zusammen mit 25 anderen Sinti, darunter viele Kinder, wurde ich nach Auschwitz deportiert.
Ich war erst 8 Jahre alt und ganz allein. Es war wie eine Hölle. Diese Situation wird man nie mehr los. Ich hatte so viele Leute noch nie gesehen. Fetzen hingen an ihnen herunter. Einige waren wie Skelette so mager und die Augen waren ganz tief. Schrecklich. Es gibt gar kein Wort dafür, um das zu beschreiben. Und ich war ja noch ein Kind. Ganz allein zwischen all den fremden Menschen.
Ohne die Hilfe und die Unterstützung durch eine andere Gefangene, die Sintiza Wanda Fischer, hätte ich nicht überlebt. Sie beschützte mich. Als die SS mit den Vorbereitungen begann, um die letzten überlebenden Gefangenen des Lagerabschnitts BIIe zu ermorden, wurde ich von Wanda getrennt. Alles war noch wesentlich schlimmer als es vorher war. Man kann es sich kaum vorstellen, aber es war tatsächlich so. Die meisten sind umgebracht worden.
Ich wurde in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Hier hatte ich niemanden mehr, der mich beschützte. Ich habe überhaupt nicht mehr gesprochen. Ich saß nur immer da wie ein Zombie. Wie eine lebendige Tote.
Gott sei Dank, war ich nur wenige Wochen in Ravensbrück. Mein Vater, Emil Matulat, hatte nicht aufgegeben. Durch Bittschriften und persönliche Eingaben hatte er sich an die Behörden und die Nazi-Führung gewandt. Das war für ihn mit einem hohen Risiko verbunden.
Ende September 1944 nur wenige Monate vor Kriegsende durfte er mich schließlich abholen. Als mein Vater mich nach diesen schrecklichen Monaten das erste Mal wiedersah, war ich völlig traumatisiert. Er sagte mir später, ich habe wie eine Mumie gewirkt. Meine Augen hätten nicht mehr wie Kinderaugen ausgesehen. Ich hatte den Blick eines sehr alten Menschen.
Es hat Jahrzehnte gedauert bis ich überhaupt über mein Schicksal sprechen konnte. Erst in den 1990er Jahren habe ich die Kraft gefunden, mit dem Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg Kontakt aufzunehmen und meine Geschichte zu erzählen. Erstmals konnte ich über meine schrecklichen Erlebnisse sprechen, ohne zusammenzubrechen.
Noch heute fällt es mir ausgesprochen schwer, an den Ort des Vernichtungslagers Auschwitz zurückzukehren. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wohin Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus führen. Drei meiner vier leiblichen Geschwister und meine leibliche Mutter wurden durch die Nationalsozialisten ermordet. Ich selbst habe Auschwitz nur mit viel Glück und durch den selbstlosen Einsatz einzelner Menschen überlebt.
Die Schicksale der Ermordeten und der Überlebenden der Vernichtungslager dürfen nie in Vergessenheit geraten. Auch deshalb stehe ich heute hier. In einer Zeit, in der rassistische Gruppierungen in vielen Ländern an Einfluss gewinnen, reicht es nicht, an die Verbrechen zu erinnern. Wir alle – die Überlebenden der Vernichtungslager genau wie die Nachgeborenen – müssen für Menschenrechte und Demokratie eintreten. Wir dürfen uns nie sicher sein, daß sich die Verbrechen der Nazis nicht wiederholen.
May I just say that I am very sad, that the current political climate emboldens racists and extremists so that people like myself have to feel fearful again.
Biografie
Else Baker wurde im Dezember 1935 in Hamburg als Tochter einer Sintiza geboren. Als Kleinkind wurde sie durch eine Pflegefamilie (Auguste und Emil Matulat) aufgenommen. Im März 1943 wurde Else durch zwei Polizisten verhaftet und zum Fruchtschuppen im Hamburger Hafen gebracht, der als Sammelpunkt für Deportationen von Juden, Sinti und Roma aus Hamburg in die Konzentrationslager diente. Das 7-jährige Mädchen sollte zusammen mit 328 anderen Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht werden. Zu Elses Glück gelang es ihrem Pflegevater, Emil Matulat, ihre Freilassung zu erreichen. Sie durfte nach Hause zurückkehren.
Allerdings wurde sie im April 1944 erneut verhaftet und wieder zum Fruchtschuppen gebracht. Dieses Mal konnte ihr Pflegevater ihre Deportation nicht verhindern. Sie wurde nach Auschwitz verschleppt. Ganz auf sich allein gestellt, überlebte sie das Lager nur, da sich eine ältere Sintiza ihrer annahm. Als die letzten im Lagerabschnitt BIIe verbliebenen Sinti und Roma im August 1944 ermordet wurden, wurde Else von ihrer Beschützerin getrennt und in das Konzentrationslager Ravensbrück transportiert. In der Zwischenzeit hatte sich ihr Pflegevater mit persönlichen Eingaben an Behörden und führende Funktionäre des NS-Regimes gewandt. Im September 1944 erhielt er die Erlaubnis, Else aus Ravensbrück abzuholen. Heute lebt Else Baker in Großbritannien, in das sie in den 1960er Jahren emigrierte. Seit den 1990er Jahren ist sie in der Zeitzeugenarbeit aktiv und wurde für ihr Engagement mehrfach ausgezeichnet. So war sie 2005 die erste Sintiza, die durch die britische Königin empfangen wurde.
„Ich war nur 8 Jahre alt und ganz alleine. Es war wie ein Inferno. Diese Situation wird man nie mehr los.“
Interview mit Else Baker, 2007
Statements anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktages für Sinti und Roma
Romani Rose
Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Katarina Barley
Vice President of the European Parliament
Helena Dalli
EU-Kommissarin für Gleichstellung
Mehmet Daimagüler
Dr. Mehmet Daimagüler, Antigypsyism Commissioner of the Federal Government
Roberta Metsola
Roberta Metsola, President of the European Parliament
Claudia Roth
Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
Paul Blokhuis
Dutch State Secretary Paul Blokhuis
Chris J. Lazaris
Amb. Chris J. Lazaris, IHRA Chairman
Fernand des Varennes
UN-Sonderbeobachter für Minderheitenfragen
Anna-Nicole Heinrich
President of the Synod of the Evangelical Church in Germany (EKD)