2. August 2021

Wolfgang Schäuble

Präsident des Deutschen Bundestages

Gedenkrede zum 2. August 2020, Internationaler Gedenktag an den Holocaust an Sinti und Roma

Am Berliner Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma ist ein Gedicht von Santino Spinelli eingraviert:

"Stille / ein zerrissenes Herz / ohne Atem / ohne Worte / keine Tränen.“

500.000 Sinti und Roma fielen während des Zweiten Weltkrieges dem ideologischen Vernichtungswahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Sie wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, öffentlich erniedrigt und diffamiert, ihres Besitzes beraubt, nach rassistischen Kriterien erfasst, zwangssterilisiert, misshandelt, ermordet.

Nach dem sogenannten „Auschwitz-Erlass“ im Dezember 1942 begannen die systematischen Deportationen nach Auschwitz-Birkenau. 23.000 Sinti und Roma aus elf Ländern wurden in das sogenannte „Zigeunerlager“ verschleppt. Nur wenige überlebten. Unter ihnen Sinti und Roma, die sich im Mai 1944 gegen die Ermordung in den Gaskammern gewehrt hatten. Mit Messern, Spaten, Brecheisen und Steinen. Die SS zog ab. Doch das Morden ging weiter.

In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 tötete die SS die in Auschwitz noch verbliebenen Sinti und Roma. Mehrere Tausend Frauen, Kinder und alte Menschen. „Das Schreien dauerte bis in die Nacht an“, ist in den Akten des Auschwitzprozesses nachzulesen.

Der 2. August ist für Sinti und Roma ein Tag der Trauer. Ein Tag der Erinnerung an den Porajmos – wie der Genozid in Romanes heißt. Seit 2015 ist der 2. August auch ein Europäischer Gedenktag. Er ist wichtig, um ein öffentliches Bewusstsein über die leidvolle Geschichte der größten ethnischen Minderheit in Europa zu schaffen. Und das ist bitter notwendig. Denn das Wissen über den Völkermord an den Sinti und Roma ist auch heute noch, auch in Deutschland, erschreckend gering.

Zoni Weisz, der 2011 im Deutschen Bundestag die Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hielt, sprach von einem „vergessenen Holocaust“ an seinem Volk. Es muss uns Deutsche beschämen, dass Sinti und Roma Jahrzehnte warten mussten, bis sie als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt wurden, bis ihnen der Anspruch auf Entschädigung zugesprochen wurde.

„Die Wahrheit ist schmerzlich, aber nur mit ihr können wir unser Glück aufbauen“, sagte die Auschwitz-Überlebende Philomena Franz.

Zeitzeugen werden bald nicht mehr unter uns sein, weder Opfer noch Täter. Die Wahrheit bleibt – und sie bleibt eine Zumutung. Jede Generation hat sich ihr aufs Neue zu stellen. Aus der Erfahrung des Holocaust leitet sich die Selbstverpflichtung unseres Staates ab, die Würde jedes Menschen zu wahren und zu schützen. Auf diesem Fundament fußen unsere freiheitliche Rechtsordnung und ihre Werte. Das ist der Grundkonsens unserer Gesellschaft, der immer wieder verteidigt werden muss. Wir neigen dazu, die demokratische Ordnung für selbstverständlich zu halten. Das ist sie nicht – wie der Alltag und extremistische Tendenzen zeigen.

Bis heute erfahren viele Sinti und Roma Ausgrenzung. In der Schule, bei der Wohnungssuche, im Berufsleben. Aus Angst vor Diskriminierung verschweigen viele ihre ethnische Herkunft. Solange dies so ist, können wir nicht von gesellschaftlicher Normalität sprechen. Deswegen ist die Arbeit der Expertenkommission des Bundesinnenministeriums zum Antiziganismus so wichtig. Es braucht mehr Aufklärung, Information, Austausch und Wissen. Über die wechselvolle Geschichte von Sinti und Roma. Über ihre alte Sprache, ihre mündlich überlieferten Traditionen und Bräuche. Über ihren vielfältigen Beitrag zur europäischen Kunst und Kultur. Über ihr Leid.

Wir müssen behutsam mit der Erinnerung und mit dem Erreichten umgehen. Das gilt auch für das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma in Sichtweite des Reichstags in Berlin. Das sind wir den Opfern schuldig.

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