2. August 2021

Dr. Jens-Christian Wagner

Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen und Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Statement anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktages für Sinti und Roma 2020

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mein Name ist Jens-Christian Wagner; ich bin Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen und Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.

Anfang August 1944, heute vor 76 Jahren, löste die SS das sogenannte „Zigeuner-Familienlager“ in Auschwitz-Birkenau auf. In der Sprache der SS hieß das „Liquidation“. Wer als nicht arbeitsfähig galt, vor allem Alte und Kinder, wurde ins Gas geschickt. Nur etwa 3000 Männer und Frauen ließ die SS am Leben – sie sollten Zwangsarbeit für den von den Nationalsozialisten propagierten „Endsieg“ leisten.

Während die Frauen in das KZ Ravensbrück kamen, brachte die SS fast alle überlebenden Jungen und Männer in den Harz, in das KZ Mittelbau-Dora. Von dort kamen sie – wie auch viele Frauen aus Ravensbrück – im Frühjahr 1945 mit den Räumungstransporten in das KZ Bergen-Belsen. Damit wurde die Mehrheit der Sinti und Roma, die in den Konzentrationslagern überlebt hatten, in Bergen-Belsen befreit, einem Ort, der in der kollektiven Erinnerung der Minderheit daher einen besonderen Raum einnimmt.

Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb Bergen-Belsen für die Sinti und Roma in Deutschland ein bedeutsamer Erinnerungsort ist: Im Oktober 1979 veranstalteten diverse Roma-Verbände und die Gesellschaft für bedrohte Völker eine Gedenkkundgebung in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Ziel war es, sowohl auf die Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus als auch auf die fortdauernde Ausgrenzung auch noch in den 1970er Jahren aufmerksam zu machen.

Für die gerade erst im Entstehen begriffene Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in Deutschland war die Gedenkveranstaltung in Bergen-Belsen (ähnlich wie ein Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau im Jahr darauf) von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man die Gedenkstätte Bergen-Belsen als einen Geburtsort der Sinti-Bürgerrechtsbewegung benennt. Auch daran möchten wir heute, gut vierzig Jahre danach, erinnern.

Mittlerweile sind die Selbstorganisationen der Sinti und Roma ein fester Bestandteil der deutschen Zivilgesellschaft, auch in Niedersachsen. Dennoch gibt es kaum ein Thema der NS-Verfolgung, das derartige Aktualitätsbezüge aufweist wie die Verfolgung der Sinti und Roma. Wir gedenken heute der mehreren Hunderttausend Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma. Es wäre fahrlässig, falsche historische Analogien zu konstruieren. Dennoch dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass auch heute Sinti und Roma in Deutschland und Europa von der Mehrheitsgesellschaften diskriminiert, ausgegrenzt und vielfach auch angegriffen werden. Dem müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen. Auch dazu soll ein Gedenktag wie der heutige beitragen. Sagen wir gemeinsam Nein zum Rassismus gegen Sinti und Roma und Ja zu einer offenen, demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung mit geschichtsbewusster Wachsamkeit.

Stellungnahmen

Romani Rose

Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

Erich Schneeberger

stellv. Vorsitzender des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma und Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma – Landesverband Bayern

Timea Junghaus

Executive Director
European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC)

Adam Strauß

Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Hessen

Marian Kalwary

Chairman of the Association of Jews,
Survivors and Victims of the Second World War

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